Der Ferne Westen

Tag 7 nach der Ära Mubarak. Noch immer drängen Nachrichten aus Ägypten auf die ersten Seiten der deutschen Presse. Doch der Ton hat sich verändert, längst sind es wieder die „kritischen Stimmen“, die die Deutungshoheit über die Ereignisse im Nahen Osten zurückzuerobern versuchen. Man könnte auch sagen: der immer gleiche Tonfall aus Kleinmut, Skepsis und falscher Empörung. Warum gelingt es uns nicht, die Revolution zu Ende zu denken? Ich behaupte: Nicht, weil die Ereignisse am Nil dies erforderten, sondern weil wir uns selbst das Träumen längst abgewöhnt haben. Längst vergessen der historische Satz von Che Guevara, ohne den keine Revolte, kein Umsturz, ja nicht einmal eine Mondlandung möglich gewesen wäre: „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“

Ägypten steht weder vor einer Militärdiktatur – das hat es im Grund genommen ja gerade hinter sich – noch vor einer Machtübernahme islamistischer Kreise. Dem ambitionierten Aufruf des politischen und religiösen Führers des Iran, Ali Chamenei, der ägyptischen Revolution ein religiöses Gesicht zu verleihen, erteilten die vom Westen als Neo-Taliban abgestempelten Muslimbrüder eine klare Absage: „Die Muslimbrüder betrachten die Revolution als eine Revolution des ägyptischen Volks und nicht als eine islamische Revolution,“ hieß es schon Anfang Februar auf der Website der verbotenen Oppositionspartei. Und diese werde gemeinschaftlich von Muslimen und Christen aller Parteien unterstützt. Was der Westen angesichts der überaus konservativen Ansichten der Muslimbrüder immer wieder vergisst, obwohl ihn die Bilder aus dem Irak eigentlich täglich daran erinnern müssten: Muslim ist nicht Muslim, und der Versuch des schiitischen Iran, sich zum Führer der muslimischen Welt aufzuschwingen, wird nicht zuletzt am Widerstand der ägyptischen Sunniten scheitern.

Die Erklärung des Militärs, innerhalb von 6 Monaten die ersten freien Wahlen durchführen zu wollen, und die Verhaftung ehemaliger Minister lässt mehr Hoffnung zu, als gemeinhin in der Presse beschrieben wird. Historische Vergleiche hinken, aber 1949 war es eine Militärregierung, die die erste funktionstüchtige Demokratie auf deutschem Boden installierte, indem sie die Bildung eines verfassungsgebenden „Parlamentarischen Rats“ initiierte. Nichts anderes geschieht derzeit in Ägypten: Eine achtköpfige Kommission unter dem Vorsitz des angesehenen Juristen und Mubarak-Kritikers Tariq Al-Bishri arbeitet derzeit Verfassungsänderungen aus – um den Übergang von einer autoritären zu einer liberalen Politik zu ermöglichen. Al-Bishri ist selbst fast so alt wie der gestürzte Präsident, doch seine Einstellungen machen ihn zu einem erfahrenen Verfechter der Gewaltenteilung und der Stärkung des Parlaments gegenüber dem Amt des Präsidenten. Der ehemalige Linke gibt heute als gemäßigt religiös und nationalistisch. Für den Westen (und die hiesige Presse) vielleicht ein Grund, ihm zu misstrauen, aber im Kontext der ägyptischen Politik ein klares Signal des Militärs, die angekündigte Machtübergabe an eine zivile Regierung ernstzunehmen.

Ein  zentrales Problem der westlichen Medien mit der ägyptischen Wende scheint mir der Umstand zu sein, dass die Kategorien von „gut“ und „böse“ mit zunehmender Distanz zur ägyptischen Wirklichkeit nur zu oft durcheinander geraten. Der Fall der Mauer war für ausländische Berichterstatter im Vergleich zum Dickicht aus geförderten Diktatoren, religiösen Sozialarbeitern und angesehenen Militärs vergleichsweise einfach: das gute Volk besiegt den bösen Staat, auf Unterdrückung und Freiheitsberaubung folgt Frieden und Demokratie.

So einfach ist es nicht im Nahen Osten, soviel steht fest. Doch das liegt nicht zuletzt – am fernen Westen.

Über Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn drehte er Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist.
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