Die Lehre vom Tahrir

Wer hätte das gedacht? Ein gutes halbes Jahr nach der ersten freien Präsidentenwahl ist in Ägypten schon wieder von einem „Pharao“ die Rede. Ein Kandidat der Herzen ist er ohnehin nicht gewesen: Mohammed Mursi, in der eigenen Partei nur zweite Wahl, übertraf selbst in der Stichwahl nur mit Mühe die magische 50%-Marke. In Städten wie Alexandria führte im ersten Wahlgang gar der Kandidat der säkularen Demokraten.

Und doch schien er seine Sache überraschend gut zu machen. Die geschickte Verbannung des ebenso tolpatschig wie absolutistisch regierenden Militärs in die zweite Reihe, die klare Absage an die iranischen Hegemoniebestrebungen auf der Tagung der blockfreien Staaten in Teheran und die erfolgreiche Vermittlerrolle im aktuellen Gaza-Krieg: Kaum jemand hätte dem als tumb und uncharismatisch geltenden Islamisten einen solchen Start zugetraut.

Und hier beginnt die Tragödie, für Mursi selbst wie für sein Land. Der ungewöhnlich konzertierte Applaus aus Washington, Tel Aviv und Gaza sorgte letzte Woche für den ersten Blackout des politischen Senkrechtstarters. Bei dem Versuch, auf der Welle absoluter Popularität in den rechtsfreien Raum der Diktatur zu segeln, ist der selbsternannte Kapitän der Herzen deutlich baden gegangen. Einige Kommentatoren halten Mursis aktuellen Kompromissvorschlag – Verfassung oder Präsidialdekrete – zwar für eine nachträgliche Bestätigung seines riskanten Pokers um die volle Macht. Doch die Ereignisse der letzten Tage zeigen: Nicht allein der Ausgang des Verfassungsplebiszits, die Zustände auf der Straße werden letztlich über das Wohl und Wehe der islamistischen Wende befinden.

Ägypten ist nicht der Iran – und Mursi weit entfernt von der Polularität eines Ajatollah Chomeini. Ob sein Versuch, die neue Verfassung zu einem Spielplatz der Islamisten zu machen, wirklich aufgehen wird, ist daher mehr als fraglich. Wer die Wut des Volkes unterschätzt, wird nicht zum Totengräber der Demokratie, sondern seiner eigenen Macht. Das ist die Lehre vom Tahrir. Und die ist – bei aller Liebe zum Propheten – im Land der Pharaonen derzeit mindestens so populär wie religiöse Lehren.

Über Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn drehte er Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist.
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