Die Rückkehr des Pharao

pharaoNicht nur im Werbefernsehen wird gerne auf die 5000jährige Geschichte Ägyptens verwiesen. Sinn und Zweck der behaupteten Kontinuität – für die man auch gerne mal die tiefen kulturellen und religiösen Brüche des Landes übersieht – ist das Versprechen einer andauernden Identität, die auf Touristen eine anziehende, auf Einheimische eine pathetisch-rückenstärkende Wirkung entfalten soll. Eine Folge dieser geschichtsphilosophischen Gegenwartsbetrachtung ist auch die immer wieder zu lesende Bezeichnung Mohammed Mursis als „erstes frei gewähltes Staatsoberhaupt in 5000 Jahren ägyptischer Geschichte“.

Man mag von der Politik Mursis halten, was man will, doch mit dieser Aussage muss sich jeder politische Gegner auseinandersetzen, will er sich nicht den Vorwurf der Polemik gefallen lassen. Wenn Mursi heute morgen also zu Beginn seines Prozesses dem Richter entgegnete: „Ich bin Ihr rechtmäßiger Präsident und Sie sind nicht rechtmäßig!“, so war dies nicht nur ein Affront, der wie beabsichtigt eine Unterbrechung der Verhandlung zur Folge hatte, sondern auch ein nicht von der Hand zu weisendes Argument. Mohammed Mursi ist 2012 für die Dauer von 6 Jahren zum Staatsoberhaupt des Landes gewählt worden und damit, zumindest moralisch, sein einzig legitimer Präsident.

Die Übergangsregierung, durch einen Militärputsch an die Macht gekommen und mit Massenprotesten feigenblattähnlich legitimiert, soll sich in der Bevökerung noch immer großer Beliebtheit erfreuen. Doch kann dieses Stimmungsbild einen Regierungsstil legitimieren, der sich in erster Linie mit der Verhaftung des Staatsoberhaupts, der Ermordung seiner Anhänger und des Verbots seiner Regierungspartei hervorgetan hat? Weshalb wiegen die Toten, die in Mursis Regentschaft ums Leben kamen, so viel schwerer als jene Hundertschaften, die im Sommer dieses Jahres durch die Hand des Militärs ihr grausames Ende fanden?

Ägypten, so scheint es, hat in der Tat eine 5000 Jahre alte Tradition: Der Wunsch nach einem Pharao, einem gütigen Patrioten mit eiserner Hand, scheint stärker zu sein als der Wunsch nach einer modernen und pluralistischen Gesellschaft mit jenen Idealen, die der arabische Frühling einst so vehement gefordert hatte. Folterung, Meinungsmonopol des Staates, Armut? Geschenkt! Oder wie ist es zu verstehen, wenn sich die heutigen politischen Alternativen auf fundamentalistische Religiöse oder die nicht weniger militanten Sisi-Groupies* verengt zu haben scheinen?

Als Präsident Sadat 1981 von 57 Schüssen niedergestreckt worden war, rief der islamistische Attentäter den laufenden Kameras entgegen: „Ich habe den Pharao getötet!“ Die geplante islamische Volksrevolution aber wurde durch die rasche Reaktion des Militärs und ihren Oberbefehlshaber Mubarak im Keime erstickt.

Totgesagte leben ja bekanntlich länger. 30 Jahre und eine Volksrevolution später ist die Wiederkehr des Pharao nur noch eine Frage der Zeit.

* „Um ehrlich zu sein, (Sisi) braucht uns gar nicht aufzufordern oder zu befehlen, etwas zu tun. Ein Zwinkern dieser Augen oder Schnippen dieser Finger genügt, dass wir seinem Ruf folgen. Und wenn er seinen Stall auf vier Ehefrauen auffüllen möchte, stehen wir bereit. Aber selbst wenn er uns nur als gefangene Sexsklavinnen benutzen möchte, werden wir uns nicht zieren.“ (Ghada Sherifin in der einst liberalen „Egypt Independent“)

(Bild: MykReeve)

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Die Verlagerung der Ohnmacht

130424-D-BW835-482Wer diesen Monat die Nachrichten über Ägypten verfolgt hat, konnte durchaus zu dem Eindruck gelangen, durch die Berichterstattung eher verwirrt denn aufgeklärt zu werden. Nun will ich nicht behaupten, dass die Gemengelage vor Ort einfach zu entwirren wäre – noch dazu für einen Journalisten aus dem europäischen Ausland. Es ist aber doch bemerkenswert, wie wenig das, was an Ereignissen täglich kolportiert wird, auch eine Reflexion erfährt, die ihrer historischen und politischen Tragweite gerecht wird.

Fassen wir zusammen: Ein großer Teil des ägyptischen Volkes ist am 30. Juni 2013 gegen den amtierenden Präsidenten Mohammed Mursi auf die Straße gegangen, um seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen. Diese lassen sich wie folgt vereinfachen: Einbruch der Ökonomie und zunehmende Islamisierung der Politik. Nur einen Tag später ergreift das Militär die Initiative und stellt dem Präsidenten ein Ultimatum; der eigentliche Putsch wird 48 Stunden später durch die Absetzung (und Inhaftierung) Mursis vollzogen. Unter dem Jubel der Protestierenden tritt die ägyptische Revolution in eine neue Phase ein: nach dem Sturz des Autokrators (2011) und dem Sturz des Militärherrschers (2012) nun der Sturz der Demokratie (2013).

Was nun verbindet und was unterscheidet diese drei Stufen des „ägyptischen Frühlings“? Realistisch betrachtet handelt es sich bei allen drei Ereignissen um Entscheidungen des ägyptischen Militärs. 2011 war es das Militär, das den immer unpopuläreren Ex-Luftwaffengeneral Mubarak fallen ließ, 2012 war es das Militär, das sich nach den blutigen Monaten im Rampenlicht der Macht freiwillig in die zweite Reihe zurückzog und 2013 war es wieder das Militär, das sich Mursis bei der allerersten Gelegenheit entledigte. Dem ägyptischen Volk kam bei all diesen Entscheidungen die Rolle eines – immerhin glanzvollen – Statisten zu. Eine traurige, aber nicht zu verdrängende Wahrheit lautet doch: Diese „Revolution“ hat weit weniger mit Demokratie zu tun, als wir es gerne hätten.

Immer wieder heißt es in den Medien, die USA bangten ganz besonders um die Situation in Ägypten, da dieses Land ihr wichtigster Verbündeter im Nahen Osten sei. Schließlich überwiesen sie dem Militär horrende Summen, eine Folge – oder Belohnung – des Friedensschlusses zwischen Israel und Ägypten im Jahre 1979. Gleichzeitig wird davon berichtet, das Militär trete wie ein sturer Bündnispartner auf und müsse unentwegt von den Geldgebern „gerügt“ werden – zu mehr Demokratie, zu mehr Menschenrechten, zu mehr Pressefreiheit. Selbst Daniel Cohn-Bendit forderte unlängst ein konzertiertes Vorgehen von EU und USA: „Wir müssen gemeinsam auf das Militär einwirken, damit es die Jagd auf die Mursi-Anhänger beendet.“ Angesichs dieser allerorts geäußerten „Überraschung“ stellt sich natürlich die Frage, wer hier der Koch und wer der Kellner ist.

An dieser Stelle könnte man auf die erste ägyptische „Revolution“ von 1952 verweisen, in der schon einmal ein ägyptischer Herrscher – der von den Briten abhängige König Faruk – vom Militär mit großzügiger Rückendeckung der USA aus dem Amt getrieben wurde. Der wenig schmeichelhafte Name der streng geheimen Operation: „Project FF“ („Fat Fucker“). Wer also ist der Naivere? Der Demonstrant auf dem Tahrir-Platz, der angesichts der blutigen Militärherrschaft von 2012 noch immer darauf vertraut, dass al-Sisi und seine Generäle nur ein Jahr später zu lupenreinen Demokraten inklusive Minderheiten-Schutz herangereift sind – oder jener Journalist, der ersthaft glaubt, eine imperial auftretende Supermacht wie die USA nehme über Milliardenzahlungen keinen direkten Einfluss auf die wirklichen Entscheidungsträger im Lande und müsse sich nun mit der Rolle des sorgenvollen Beobachters begnügen?

Fassen wir zusammen: Von 1979 bis heute haben die USA jährlich 1,3 Milliarden Dollar an das ägyptische Militär überwiesen, damit dieses ihre Interessen im Nahen Osten vertrete. Daran hat sich weder 2011 noch 2012 noch 2013 etwas geändert. Mit Revolution hat das, was das Schauspiel am Tahrir der Menge vor den TV Geräten vorgaukelt, ebenso wenig zu tun wie mit Demokratie. Erstere definiert sich über einen politischen Umsturz und eine Verlagerung der Macht – was in Ägypten so nie geschehen ist; zweitere… Ach, davon schweigen wir besser.

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The Lesson of Tahrir

thelessonoftahrirWho would have believed that only half a year after the first free presidential election in Egypt there would already be talk about a new Pharaoh. Mohammed Mursi was never a candidate of the people’s hearts: only the second choice of candidate in his own party, he only went on to succeed in the second ballot by the skin of his teeth. In cities such as Alexandria however, the secular democrats were leading in the first ballots.

Yet Mursi seemed to be successful in the tasks he undertook surprisingly well. The skilful push of the as clumsy as absolutist ruling military into the second row, the explicit rejection of Iran’s hegemonic aspirations at the Summit of the Non-Aligned Movement in Tehran, and the role as successful mediator in the current war in Gaza: Few would have believed that this naïve and uncharismatic Islamist could have began his rule in such a manner.

And this is where the tragedy begins, for Mursi as well as for his country. The unusual concerted applause from Washington, Tel Aviv and Gaza last week caused the first blackout of the political high flyer. In an attempt to sail on the wave of absolute popularity into the legal limbo of dictatorship, the self-appointed captain of the people’s hearts considerably failed. Some commentators believe Mursi’s current compromise – constitution or presidential decrees – to be a subsequent confirmation of the risky game of power he is playing. But the events of the last few days show: the deciding factor of the weal and woe of the Islamist change will ultimately be shown in the conditions on the streets, rather than through the outcome of the constitutional referendum.

Egypt is not Iran, and Mursi is far from enjoying the popularity that was bestowed on Ajatollah Chomeini. Whether his endeavour of creating a playground for the Islamists with the new constitution will actually succeed is highly questionable. Who ever underestimates the anger of the people, will not be the gravedigger of democracy but of his own power.  That’s the lesson of Tahrir. And despite Egypt’s love for the prophet, this simple truth is now as popular as religious lessons in the land of the Pharaohs.

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Die Lehre vom Tahrir

Wer hätte das gedacht? Ein gutes halbes Jahr nach der ersten freien Präsidentenwahl ist in Ägypten schon wieder von einem „Pharao“ die Rede. Ein Kandidat der Herzen ist er ohnehin nicht gewesen: Mohammed Mursi, in der eigenen Partei nur zweite Wahl, übertraf selbst in der Stichwahl nur mit Mühe die magische 50%-Marke. In Städten wie Alexandria führte im ersten Wahlgang gar der Kandidat der säkularen Demokraten.

Und doch schien er seine Sache überraschend gut zu machen. Die geschickte Verbannung des ebenso tolpatschig wie absolutistisch regierenden Militärs in die zweite Reihe, die klare Absage an die iranischen Hegemoniebestrebungen auf der Tagung der blockfreien Staaten in Teheran und die erfolgreiche Vermittlerrolle im aktuellen Gaza-Krieg: Kaum jemand hätte dem als tumb und uncharismatisch geltenden Islamisten einen solchen Start zugetraut.

Und hier beginnt die Tragödie, für Mursi selbst wie für sein Land. Der ungewöhnlich konzertierte Applaus aus Washington, Tel Aviv und Gaza sorgte letzte Woche für den ersten Blackout des politischen Senkrechtstarters. Bei dem Versuch, auf der Welle absoluter Popularität in den rechtsfreien Raum der Diktatur zu segeln, ist der selbsternannte Kapitän der Herzen deutlich baden gegangen. Einige Kommentatoren halten Mursis aktuellen Kompromissvorschlag – Verfassung oder Präsidialdekrete – zwar für eine nachträgliche Bestätigung seines riskanten Pokers um die volle Macht. Doch die Ereignisse der letzten Tage zeigen: Nicht allein der Ausgang des Verfassungsplebiszits, die Zustände auf der Straße werden letztlich über das Wohl und Wehe der islamistischen Wende befinden.

Ägypten ist nicht der Iran – und Mursi weit entfernt von der Polularität eines Ajatollah Chomeini. Ob sein Versuch, die neue Verfassung zu einem Spielplatz der Islamisten zu machen, wirklich aufgehen wird, ist daher mehr als fraglich. Wer die Wut des Volkes unterschätzt, wird nicht zum Totengräber der Demokratie, sondern seiner eigenen Macht. Das ist die Lehre vom Tahrir. Und die ist – bei aller Liebe zum Propheten – im Land der Pharaonen derzeit mindestens so populär wie religiöse Lehren.

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Die Logik der Gewalttätigen

Danzig, Westerplatte, Wald

Historiker werden das Jahr 2012 vielleicht in eine Reihe mit 1914 und 1939 stellen. Nicht, weil historische Daten und Entwicklungen per se vergleichbar wären. Das, was unser Jahr mit jenen lang vergangenen Zeiten in eine Reihe stellt, ist die absehbare und schon für Zeitgenossen nachvollziehbare Abfolge eskalierender Ereignisse, die in unmittelbarer Zukunft in einen großen militärischen Konflikt münden wird. Wenn nicht, ja wenn nicht – in noch viel kürzerer Zeit – ein unvorhersebares Wunder geschieht.

Diese düstere Prognose hat mit esoterischen Spekulationen à la Mayakalender wenig zu tun. Vor unserer aller Augen und ganz und gar nicht im Geheimen bringen sich die beteiligten Parteien seit Monaten in Stellung. Die Fronten sind hinlänglich geklärt: Auf der einen Seite Israel, Saudi-Arabien und der so genannte Westen, auf der anderen Seite das, was man so gerne für deren Gegenstück hält: die Islamische Republik Iran, die libanesische Hisbollah, die Hamas und Baschar al-Assads angezähltes Syrien, subtil flankiert von China und Russland, den vermeintlichen advocati diaboli. Dass jene nicht nur Blockierer eines gerechten Feldzugs, sondern auch eines unkontrolliert wuchernden Imperialismus sind, ist bekanntlich ebenso wie die Charakterisierung der syrischen Rebellen als Freiheitskämpfer oder Dschihadisten vor allem eine Frage der Perspektive bzw. des Standorts der betreffenden Druckerpresse.

Die Schüsse von Sarajewo bzw. auf die Westerplatte scheinen dieses Mal den syrischen Rebellen überlassen worden zu sein. Zu brillant das Timing, zu berechenbar die Folgen, um den Angriff syrischer Granaten auf die türkische Kleinstadt Akçakale wirklich für ein Versehen (und für eine Tat der Regierungstruppen) halten zu können. Längst geht den ersten Schüssen der NATO ein subtiler Spionage- und Wirtschaftskrieg voraus: Die Zerstörung der iranischen Wirtschaft und die waffentechnische Unterstützung der syrischen Rebellen haben die Dimension eines „psychologischen“ Kriegs (Ahmadinedschad) bereits überschritten. Was den offenkundig an einer Neuordnung des Nahen Ostens Interessierten bislang fehlte, war ein nachvollziehbarer Grund, vom diplomatischen Säbelrasseln zum Einsatz scharfer Munition übergehen zu können; der Angriff „syrischer“ Truppen auf einen NATO-Mirgliedsstaat kommt da gerade Recht.

Die Folgen des drohenden Unheils sind kaum abzusehen. Zu verzweigt ist das komplexe Netz aus Interessen und Antipathien, um einen klaren Krisenverlauf vorhersehen zu können. Vergleichbar mit 1914 scheinen die vom gegenwärtigen Frieden nur mühsam überzeugten Parteien gleichermaßen darauf erpicht, endlich Tacheles bzw. die Waffen sprechen lassen zu können. Anders, so die Logik der Gewalttätigen, ist eine Zukunft im eigenen Sinne nicht zu erreichen. Dass der erste Schuss zugleich auch jede weitere Kontrolle verunmöglicht, haben diese gleichermaßen in Verbalattacken und Drohungen erfahreren Regierungen trotz zahlreicher Bürgerkriege und militärischer Auseinandersetzungen scheinbar nicht verinnerlicht. Sehr zur Freude jener in der zweiten Reihe, die diese Lektion – zumindest in den eigenen vier Wänden – gelernt haben und ihre eigenen militärischen Potentiale seither mit Vorliebe auf fremden Schlachtfeldern entfalten.

Den Beschluss des türkischen Parlaments, dem Premier weitgehende Rechte bei militärischen Aktionen im arabischen Nachbarland einzuräumen, kommentierte der stellvertretende Vorsitzende der oppisitionellen CHP, Muharrem Ince, heute wie folgt: „Damit können Sie einen Weltkrieg beginnen.“ Hoffen wir, dass der Angesprochene diese Aussage als das verstanden hat, was sie – dem Ernst der Lage nach – ist: eine Warnung, keine Aufforderung.

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-2008-0513-500 / CC-BY-SA

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Ikone wider Willen

Äußerlich hat er sich kaum verändert. Fady es Sawy lächelt schüchtern, als er durch die Halle des ehrwürdigen, aber etwas schäbigen Café Groppy auf mich zukommt. Mit seiner hohen, fast schlaksigen Gestalt sticht er auffallend aus der Menge der übrigen Gäste heraus. Wir umarmen uns, und für einen Augenblick genieße ich die Nähe eines Menschen, um dessen Leben ich in den letzten Monaten so oft gebangt habe. Fady es Sawy ist unfreiwillig zu einer Ikone des Widerstands geworden.

Ich denke an die Bilder, die mich im Herbst des vergangenen Jahres über Facebook erreicht haben. Menschenmassen halten Transparente mit Fadys Namen in die Luft; bekannte ägyptische Regisseure tragen während Preisverleihungen T-Shirts mit Fadys Gesicht auf ihrer Brust; ‚Free Fady!‘ wird über Nacht zu einem Schlachtruf all jener, die die noch junge Revolution bereits wieder in Gefahr wähnen. Keine zwei Monate nach unserem gemeinsamen Dreh über die Rolle von Künstlern während der Revolution war er selbst zu einem revolutionären Künstler geworden.

Der Ober kommt, murmelt etwas von seinen Wünschen. Fady bestellt einen Kaffee, sada – ohne Zucker. Er muss nachher noch mit seinen Studienkollegen für eine Prüfung lernen. Ich frage ihn, ob er über seine Verhaftung sprechen möchte. Fady lächelt. Er tue seit Monaten kaum etwas anderes. Und dann erzählt er mir das, was mir Zeitungen und Videos bislang verschwiegen haben. Fady, der Kameramann, der in Bildern und Stimmungen denkt, wählt seine Worte so sorgsam wie eine lange vorbereitete Einstellung. Die physische und psychische Tortur, die die Haft und die endlosen Verhöre begleitet haben, sind ihm nicht anzuhören.

Fady erzählt von der Willkür der Polizisten, die ihn mitten am Tag in Zivil von der Straße weg verhaftet haben, bloß weil er eine Kamera bei sich trug. Er erzählt von den Verwirrspielen und den Androhungen, den ständigen Beschuldigungen, den üblen Haftbedingungen. Von dem Widerstand auf der Straße, den Anrufen seiner Mutter in Fernsehsendungen, dem Protest seiner Filmhochschule hat er erst später erfahren. Im Knast ging es vor allem darum, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sich keinen Fehler zu leisten, während man tagein, tagaus mit den Fehlern einer unvollendeten Revolution konfrontiert wird. Ob die Haft seinen Widerstand gebrochen habe, will ich wissen. Fady schüttelt energisch den Kopf, das einzige Mal an diesem Abend. „Sie wollen Dich zertrampeln, aber weißt Du was? Sie erreichen genau das Gegenteil. Zu Beginn meiner Haft gab es gerade mal zwei Leute in meiner Zelle, die politische Ideen hatten. Am Ende verließen 18 Revolutionäre die Zelle.“

Fady leert seine Tasse und stellt sie behutsam auf die angeschlagene Untertasse. Er müsse nun leider los. Das Chaos in den Köpfen sei nicht das einzige, was sich seit dem Herbst verdoppelt hätte: Auf den Straßen sei inzwischen die Hölle los. Ich lache: „Inzwischen?“ Als wir hinaus an die laue Luft des abendlich beleuchteten Talat-Harb-Platzes treten, werden wir wie zur Bestätigung von einer Kakophonie aus Hupen und Schreien in Empfang genommen. zum Abschied überreiche ich ihm eine DVD mit unseren Aufnahmen aus dem Sommer. Fady lächelt. „Mein Traum war es immer, ein völlig neues Bild zu entwickeln. Ein Bild, das die Kraft hat, Dich durch das Kino in die Wirklichkeit zu holen.“

Rasch verschwindet er in den tosenden Wogen des Verkehrs. Ich muss an ein Foto denken, das ein gemeinsamer Freund kurz nach Fadys Verhaftung von ihm gemacht hat. Ich versuche, den sanften und vorsichtigen Fady mit dem Helden mit den kurzgeschorenen Haaren und der Häftlingskleidung zu vergleichen, der dank seiner ausgestreckten Faust zur Ikone einer geknebelten, aber unbeugsamen Opposition geworden ist. Und ich frage mich, was er wohl davon hält, dass er als Bildermacher nun selbst zu einem so wichtigen Bild geworden ist.

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Ein Fest für Pest und Cholera

Voting conditions?

Dass der 17. Juni für die Deutschen zu einem bittersüßen Datum geworden ist, verdanken sie zum einen ihrem bewundernswerten Mut, zum anderen der Anwendung militärischer Gewalt. Dass dieser Tag nun auch für die Ägypter einen zwiespältigen Erinnerungswert bekommen wird, hat erstaunlich ähnliche Gründe: ihren bewundernswerten Mut – wie das Militär.

In diesen Stunden gehen im ganzen Land Menschen zu einer Wahl, die viele von ihnen für eine doppelte Farce halten. Zum einen, weil ein Islamist und ein Konterrevolutionär zur Wahl stehen, die die für diese Wahl erforderliche Revolution weder begrüßt noch unterstützt haben. Zum anderen, weil die wahre Macht im Lande – das Militär – erst vor ein paar Tagen demonstriert hat, wie ernst sie ein Wahlergebnis im Zweifelsfall nimmt. Die unbequeme religiöse Mehrheit im Parlament ist seit dieser Woche erst einmal Geschichte – und wird es wohl auch bleiben, wenn es nach dem Willen des SCAF geht, dem kaum jemand etwas entgegenzusetzen hat.

Der 17. Juni wird – über Ägypten hinaus – zu einem denkwürdigen Datum. Wieder einmal sind es – wie schon im Fall der DDR – nicht die lokalen, sondern die globalen Interessen, die eine Revolution im Keim zu ersticken drohen. Man braucht kein Weltverschwörer zu sein, um zu verstehen, dass die demokratische Opposition in Ägypten kaum Verbündete hat. Wer heute zur Wahl steht, hat im Ausland finanzkräftige Unterstützer. Wie schon 1953 sind es miteinander streitende, aber letztlich aufeinander angewiesene Kräfte, die hier am Wirken sind.

Ägypten hat keine Wahl, zumindest heute nicht. Erkundigt man sich bei jenen, die im vergangenen Jahr die Revolution vom Platz in die Paläste getragen haben, stößt man vor allem auf Ernüchterung. Dabei ist das liberale Lager durchaus gespalten: Während für die einen die Wahl des Muslimbruders Mursi die einzig denkbare Alternative darstellt, um dem Militär und ihrem Favoriten einen Denkzettel zu verpassen, ergreifen andere Partei für eben jenen – allein, um das Land vor einer religiösen Wende zu bewahren. Der größte Teil der ehemaligen Revoluzzer aber bleibt beim Protest – und versucht, sich durch Wahlenthalt vom Ruch des Stimmviehs zu bewahren. In den Hochrechnungen wird dieses Lager, egal wie viele Millionen es umfasst, naturgemäß keine Rolle spielen.

Neulich wurde ich gefragt, welche Haltung man als verantwortungsbewusster Deutscher dem ägyptischen Wahlspektakel gegenüber an den Tag legen sollte. Und ob es nicht letztlich ein Glück sei, dass das Militär ein Abrutschen des Landes in den Fundamentalismus verhindern werde – schon zum Wohl aller Minderheiten im Land.

Wenn wir eines durch unseren eigenen 17. Juni gelernt haben, dann doch wohl dieses: Demokratie, die sich im Namen und in sinnlosen Wahlen erschöpft, schützt vor allem eine Minderheit: jene, die regiert.

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Kein Grund zu feiern

Die Franzosen feiern den Jahrestag ihrer Revolution nicht nur mit Feuerwerk und ausladenden Bällen, sondern auch mit Militärparaden. Auf marschierende Soldaten haben die ägyptischen Revolutionäre an ihrem ersten Jahrestag vermutlich keine Lust. Zum einen, weil man dort schon genug Ärger mit regierenden Soldaten hat. Zum anderen, weil derzeit höchstens Letztere in Feierlaune sein dürften.

Die Bilanz von einem Jahr Revolution am Nil ist in der Tat ernüchternd. Ja, der Präsident ist zurückgetreten und ja, er steht derzeit vor einem zivilen Gericht wegen der Tötung von Demonstranten. Und ja, es gab die ersten einigermaßen fairen demokratischen Wahlen im Land, bei der die einstmals staatlich unterdrückten Kräfte die größten Gewinne einfahren konnten. Ein wenig Feierstimmung wäre also denkbar – wäre da nicht das zweischneidige Damoklesschwert des allmächtigen Militärrats. Und der hat es in den vergangen 12 Monaten trotz anfänglicher Euphorie wahrlich verstanden, es sich mit den liberalen Kräften des Landes zu verderben.

Über 12000 durch Militärtribunale verurteilte Zivilisten, eine Zensurpolitik, die selbst Mubarak das Staunen gelehrt hätte, und ein Sicherheitsapparat, der auf Versammlungen gezielt in die Augen von Demonstranten schießen lässt, machen klar, warum die stete Erklärung, das Militär setze sich für die Ziele der Revolution ein, nicht nur in oppositionellen Ohren wie Hohn klingen muss. Daran ändert auch die heutige Erklärung des Militärrats, die seit Jahrzehnten geltenden Notstandsgesetze ab heute außer Kraft setzen zu wollen, nicht mehr viel. Zu spät und zu wage, lautet hierzu das Urteil der säkularen Kräfte.

Im vor zwei Tagen zusammengetretenen Parlament saßen sich zum ersten Mal die alten und die neuen Oppositionellen gegenüber. An den Mehrheitsverhältnissen der Mubarak-Ära hat die Wahl freilich nichts geändert: Auf den Sitzen der aufgelösten Regierungspartei NDP haben nun – fast ebenso zahlreich – die Muslimbrüder und die Salafisten Platz genommen; die liberalen Abgeordneten aber scheinen mit ihren nicht mal 90 Sitzen die bekannte Rolle der ohnmächtigen Opposition neu auflegen zu müssen.

Den Auftakt zu künftigen Rededuellen zwischen beiden Gruppen machte unterdessen ein Wettstreit um den kreativsten Eid: Während einige  religiösen Abgeordnete dem Treueschwur auf die Verfassung „insofern Gottes Gesetz davon nicht beeinträchtigt wird“ hinzuzufügen wussten, ergänzten manche Liberale ihren Eid ebenso eigenmächtig um die „Ziele der Revolution“. Und während sich Abgeordnete der neuen Mehrheit dienstbeflissen beim regierenden Militär für seine Verdienste um die Revolution bedankte, wurde einem liberalen Abgeordneten, der sich eher den Versäumnissen und Fehlern der Junta widmen wollte, kurzerhand das Mikrophon abgedreht – und im Rahmen der Liveübertragung mal eben Werbung ausgestrahlt.

Ägypten steht am Jahrestag seiner Erhebung zerrissener und widersprüchlicher da als jemals zuvor. Während die Salafisten ihre Anhänger zum Feiern auffordern und die Muslimbrüder bekannt geben, Sicherheitskontrollen um den Tahrir-Platz herum durchführen zu wollen, rufen die jungen alten Revolutionäre zum Sturm gegen die sich allmählich ausbreitende Revolutionsverdrossenheit. Ihre Form, dem historischen Ereignis zu gedenken, ist denn auch weder staatstragend noch verklärt: Demonstrationen anstelle von Paraden und wütender Protest anstelle salbungsvoller Reden.

Eine Parallele lässt sich schon jetzt zwischen dem 25.1.2011 und dem 25.1.2012 ziehen: Wieder ist alles offen. Was am heutigen Tag in Ägypten geschehen wird – ob sich Millionen versammeln oder Hunderte, ob es zu Schüssen kommen wird oder zu Verbrüderungen, ob die angekündigten Märsche ein kurzes Aufflackern des Widerstands oder den Beginn einer neuen Revolution darstellen werden – steht nicht weniger in den Sternen als vor einem Jahr. Ambitionierte Ziele müssen nicht automatisch zu einer Enttäuschung führen; das ist die eigentliche Lektion der Revolution.

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Warten auf Gerechtigkeit

Gut eine Woche ist es her, dass Generalstaatsanwalt Abdel-Meguid Mahmoud erklärte, Ex-Präsident Mubarak könne aufgrund eines neuen medizinischen Gutachtens nicht in ein Militärkrankenhaus verlegt werden. Der Verfasser des Gutachtens, El-Sebaai Ahmed El-Sebaai, gab zu Protokoll, Mubarak leide an „Herzrasen und ernster Melancholie“, aufgrund derer es auch nicht möglich sei, ihn zu den Vorwürfen bezüglich Korruption und Tötung zu befragen. Angesichts der Tatsache, dass die Angehörigen der rund 800 Opfer der brutalen Übergriffe der Polizei auf die Demonstrationen vermutlich ebenfalls unter „ernster Melancholie“ zu leiden haben, eine Farce. Weitere Sprengkraft liegt in der Personalie El-Sebaai. Er sei es auch gewesen, der vor genau einem Jahr den Bericht über den zu Tode gefolterten Blogger Khaled Said gefälscht hatte („Überdosis Drogen“), um den Zorn der Bevölkerung vom Sicherheitsapparat abzuwenden, für viele Ägypter der eigentliche Beginn ihrer Revolution.

Die zwei Hauptvorwürfe, die gegen Mubarak erhoben werden, lauten: Anordnung tödlicher Gewalt gegen die Demonstranten – und Veruntreuung staatlicher Gelder durch den billigen Export ägyptischen Gases nach Israel. Während gerade der letzte Vorwurf noch viele politische Diskussionen nach sich ziehen wird, da hier letztlich auch eine Folge des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags zur Debatte steht, drängt im Falle der Toten vom Tahrir die Zeit. Der Hauptverdächtige, den Einsatz scharfer Munition befehligt zu haben, ist neben dem Ex-Präsidenten und seinem Sohn Gamal vor allem der ehemalige Innenminister Habib El-Adli. Darauf hat sich auch die Verteidigung Mubaraks eingeschworen, der sogar der ehemalige Vizepräsident Omar Suleiman zur Seite springt: „Mubaraks Anweisungen an El-Adli und die Polizei waren sehr klar darin, Zurückhaltung zu üben und mit Hilfe der Armee die Protestierenden friedlich in Schach zu halten.“ Ein am 19. April veröffentlichter Untersuchungsbericht kommt freilich zu ganz anderen Ergebnissen: Ohne Mubaraks Rückendeckung hätte der Innenminister eine Aktion solcher Tragweite wohl kaum befehligen können. Als Hinweis wird auch der fehlende Wille einer Aufklärung der blutigen Zwischenfälle während Mubaraks letzten Regierungstagen gewertet.

Während die Söhne des melancholischen Präsidenten derzeit im Tora-Gefängnis von Kairo in Untersuchungshaft sitzen, wurde das für den 26. April angesetzte Verfahren gegen El-Adli erst einmal verschoben: momentan auf den 21. Mai. Spätestens dann wird sich zeigen, wie ernst es der militärischen Übergangsregierung mit der Ahndung der jüngsten Verbrechen des Mubarak-Regimes ist. Es bleibt zu hoffen, dass der im Volk weitgehend verhasste El-Adli nicht zum praktischen Sündenbock für alle politischen Versäumnisse der vergangenen Jahre stilisiert wird, um andere Verantwortliche zu schonen.

Die große Schlacht ist gewonnen, doch damit der Sturz der alten Kräfte nicht zum Pyrrhus-Sieg verkommt, braucht es mehr als große Gesten. Unruhen wie die Aufstände gegen den designierten christlichen Gouverneur von Qena durch muslimische Extremisten oder die ständigen Angriffe auf die Gasleitungen auf dem Sinai verraten: Nur ein entschlossenes Demokratieprojekt mit einem vertrauensvollen Justiz- und Polizeiapparat wird die Früchte der Revolution für die Zukunft bewahren können. „Verbrechen der Vergangenheit zu rechtfertigen, bedeutet, den Samen für zukünftige Verbrechen zu legen“ warnte schon der Philosoph und Freiheitsmedaillenpreisträger Eric Hoffer in seinem 1954 erschienenen Werk „The Passionate State of Mind“.

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Revolutionsdefizit

Während Revolutionen die Absicht verfolgen, Althergebrachtes möglichst weit hinter sich zu lassen, bringen sie nicht selten neue Zusammenhänge ans Licht, mit denen zunächst niemand gerechnet hätte. Bedenken wir die Denkmälerdichte Ägyptens, verwundert es kaum, dass eine dieser neuen Allianzen den Namen „Kunst und Gewalt“ trägt. Denn nirgends anders als im hochehrwürdigen Nationalmuseum fanden in den letzten Wochen jene Folterungen statt, die jetzt die Gemüter der jungen Revolutionäre erhitzen.

Der Slogan „Armee und Volk – Hand in Hand“, der nicht unmaßgeblich zum Gelingen der Ereignisse vom 25. Januar bzw. 11. Februar beitrug, hat spätestens seit dem „Friday of Purification“ (1. April) einen schalen Beigeschmack: An diesem Tag wurde offenkundig, dass auch die Armee nicht über den Gewaltmissbrauch und die Korruption der Mubarak-Ära erhaben ist. Zu tief sitzt scheinbar die Gewohnheit, das „kollektive Interesse“ – in diesem Fall die Stabilität – über die Rechte von Individuen zu stellen. Unter dem Vorwand, chaotische Zustände schon im Keim ersticken zu wollen, griffen die selbsternannten Hüter der Revolution ausgerechnet jede Demonstranten an, die sich unter dem Schlagwort „Rettet die Revolution“ versammelt hatten und fassungslos zusehen mussten, wie ihr Traum von einem besseren Ägypten gemeinsam mit ihren Unterkünften und Lazaretten vom Pflaster des Tahrir-Platzes gespült wurde. Die niederschmetternde Bilanz der schaurigen Reinigung: ein Toter und 71 Verletzte.

Ein weiterer besorgniserregender Fall ist die Verurteilung des ersten Kriegsdienstverweigerers Ägyptens, Maikel Nabil Sanad. Dem 26jährigen wurde im Urteil des Militärtribunals vom 10. April vorgeworfen, auf seinem Blog und auf Facebook das Militär beleidigt zu haben, was ihm nun eine dreijährige Haftstrafe einbrachte. Das erste Opfer der neuen Zensurpolitik führte mit seiner Verhaftung vor, wie weit es mit der Wahrung der Menschenrechte im revolutionären Ägypten her ist, und erfüllte auf beunruhigende Weise sein eigenes Omen: „Wir sind den Diktator losgeworden – aber nicht die Diktatur.“

Noch ist freilich nichts verloren. Vielleicht war die nun für alle sichtbare Entzauberung des Militärs sogar das notwendige Fanal, das angesichts der um sich greifenden Naivität notwendig geworden war, um nicht erneut in die Falle „stabilisierender Zustände“ zu geraten. Die Lage ist, wie nicht anders zu vermuten, denkbar unübersichtlich. Vom Zorn der Jugendgruppen (wie der Gruppe des 6. April mit ihren über 150.000 Mitgliedern), der Menschenrechtsorganisationen und der oppositionellen Kräfte überrascht, bemüht sich der Oberste Militärrat seither jedenfalls um Schadensbegrenzung.

Ohne sich für die Folterungen und Vergehen der letzen Wochen zu entschuldigen, griff die Armee zu der einfachsten Methode, das Vertrauen des zweifelnden Volks wiederzugewinnen: Bestrafung der gemeinsamen Feinde. Nach der Verhaftung der Mubarak-Familie am 13. April verlor nun auch der frisch wiederbestellte Antikenminister Zahi Hawass Amt und Würden – und seine Freiheit. Nach neun Jahren Alleinherrschaft über die archäologischen Schätze des Landes wurde er nun zu einem Jahr Haft und Zwangsarbeit verurteilt – offiziell wegen eines Rechtsstreits mit dem ehemaligen Buchhändler des Museums, Farid Attija, inoffiziell sicher nicht zuletzt aufgrund seiner Nähe zu dem gestürzten Präsidenten-Clan.

Die Armee, so ein Informant aus dem Umfeld des Obersten Militärrats, stehe seit Beginn der Unruhen auf Seiten der Revolution. Sie und die Demonstranten hätten schlicht zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten, was die Umsetzung der gleichen Ziele betreffe. Feinde der Umstürze – aus dem In- wie aus dem Ausland – versuchten nun, einen Keil zwischen das Volk und die Interimsregierung zu treiben, so Galal Nassar in der Zeitung „Al-Ahram“. Es mag sein, dass sich die Gegner der Revolution die Hände reiben, seit das Versagen der ägyptischen Militärregierung immer offener zutage tritt. Wer jedoch die politische Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen den Publizisten anlastet, die sie verbreiten oder interpreteren, verfügt selbst über ein gewaltiges Revolutionsdefizit.

„Töte nicht den Boten!“ forderte schon der alte Tragödiendichter Sophokles. Und der muss es schließlich wissen: Sein Schaffen fiel exakt in jenen schmalen Streifen der Geschichte, der als „attische Demokratie“ ein so reiches Nachleben entfalten sollte: vom Athen des 5. über das Paris des 18. bis hin zum Kairo des 21. Jahrhunderts.

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