Die Verlagerung der Ohnmacht

130424-D-BW835-482Wer diesen Monat die Nachrichten über Ägypten verfolgt hat, konnte durchaus zu dem Eindruck gelangen, durch die Berichterstattung eher verwirrt denn aufgeklärt zu werden. Nun will ich nicht behaupten, dass die Gemengelage vor Ort einfach zu entwirren wäre – noch dazu für einen Journalisten aus dem europäischen Ausland. Es ist aber doch bemerkenswert, wie wenig das, was an Ereignissen täglich kolportiert wird, auch eine Reflexion erfährt, die ihrer historischen und politischen Tragweite gerecht wird.

Fassen wir zusammen: Ein großer Teil des ägyptischen Volkes ist am 30. Juni 2013 gegen den amtierenden Präsidenten Mohammed Mursi auf die Straße gegangen, um seine Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen zum Ausdruck zu bringen. Diese lassen sich wie folgt vereinfachen: Einbruch der Ökonomie und zunehmende Islamisierung der Politik. Nur einen Tag später ergreift das Militär die Initiative und stellt dem Präsidenten ein Ultimatum; der eigentliche Putsch wird 48 Stunden später durch die Absetzung (und Inhaftierung) Mursis vollzogen. Unter dem Jubel der Protestierenden tritt die ägyptische Revolution in eine neue Phase ein: nach dem Sturz des Autokrators (2011) und dem Sturz des Militärherrschers (2012) nun der Sturz der Demokratie (2013).

Was nun verbindet und was unterscheidet diese drei Stufen des „ägyptischen Frühlings“? Realistisch betrachtet handelt es sich bei allen drei Ereignissen um Entscheidungen des ägyptischen Militärs. 2011 war es das Militär, das den immer unpopuläreren Ex-Luftwaffengeneral Mubarak fallen ließ, 2012 war es das Militär, das sich nach den blutigen Monaten im Rampenlicht der Macht freiwillig in die zweite Reihe zurückzog und 2013 war es wieder das Militär, das sich Mursis bei der allerersten Gelegenheit entledigte. Dem ägyptischen Volk kam bei all diesen Entscheidungen die Rolle eines – immerhin glanzvollen – Statisten zu. Eine traurige, aber nicht zu verdrängende Wahrheit lautet doch: Diese „Revolution“ hat weit weniger mit Demokratie zu tun, als wir es gerne hätten.

Immer wieder heißt es in den Medien, die USA bangten ganz besonders um die Situation in Ägypten, da dieses Land ihr wichtigster Verbündeter im Nahen Osten sei. Schließlich überwiesen sie dem Militär horrende Summen, eine Folge – oder Belohnung – des Friedensschlusses zwischen Israel und Ägypten im Jahre 1979. Gleichzeitig wird davon berichtet, das Militär trete wie ein sturer Bündnispartner auf und müsse unentwegt von den Geldgebern „gerügt“ werden – zu mehr Demokratie, zu mehr Menschenrechten, zu mehr Pressefreiheit. Selbst Daniel Cohn-Bendit forderte unlängst ein konzertiertes Vorgehen von EU und USA: „Wir müssen gemeinsam auf das Militär einwirken, damit es die Jagd auf die Mursi-Anhänger beendet.“ Angesichs dieser allerorts geäußerten „Überraschung“ stellt sich natürlich die Frage, wer hier der Koch und wer der Kellner ist.

An dieser Stelle könnte man auf die erste ägyptische „Revolution“ von 1952 verweisen, in der schon einmal ein ägyptischer Herrscher – der von den Briten abhängige König Faruk – vom Militär mit großzügiger Rückendeckung der USA aus dem Amt getrieben wurde. Der wenig schmeichelhafte Name der streng geheimen Operation: „Project FF“ („Fat Fucker“). Wer also ist der Naivere? Der Demonstrant auf dem Tahrir-Platz, der angesichts der blutigen Militärherrschaft von 2012 noch immer darauf vertraut, dass al-Sisi und seine Generäle nur ein Jahr später zu lupenreinen Demokraten inklusive Minderheiten-Schutz herangereift sind – oder jener Journalist, der ersthaft glaubt, eine imperial auftretende Supermacht wie die USA nehme über Milliardenzahlungen keinen direkten Einfluss auf die wirklichen Entscheidungsträger im Lande und müsse sich nun mit der Rolle des sorgenvollen Beobachters begnügen?

Fassen wir zusammen: Von 1979 bis heute haben die USA jährlich 1,3 Milliarden Dollar an das ägyptische Militär überwiesen, damit dieses ihre Interessen im Nahen Osten vertrete. Daran hat sich weder 2011 noch 2012 noch 2013 etwas geändert. Mit Revolution hat das, was das Schauspiel am Tahrir der Menge vor den TV Geräten vorgaukelt, ebenso wenig zu tun wie mit Demokratie. Erstere definiert sich über einen politischen Umsturz und eine Verlagerung der Macht – was in Ägypten so nie geschehen ist; zweitere… Ach, davon schweigen wir besser.

Über Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn drehte er Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist.
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