Die Logik der Gewalttätigen

Danzig, Westerplatte, Wald

Historiker werden das Jahr 2012 vielleicht in eine Reihe mit 1914 und 1939 stellen. Nicht, weil historische Daten und Entwicklungen per se vergleichbar wären. Das, was unser Jahr mit jenen lang vergangenen Zeiten in eine Reihe stellt, ist die absehbare und schon für Zeitgenossen nachvollziehbare Abfolge eskalierender Ereignisse, die in unmittelbarer Zukunft in einen großen militärischen Konflikt münden wird. Wenn nicht, ja wenn nicht – in noch viel kürzerer Zeit – ein unvorhersebares Wunder geschieht.

Diese düstere Prognose hat mit esoterischen Spekulationen à la Mayakalender wenig zu tun. Vor unserer aller Augen und ganz und gar nicht im Geheimen bringen sich die beteiligten Parteien seit Monaten in Stellung. Die Fronten sind hinlänglich geklärt: Auf der einen Seite Israel, Saudi-Arabien und der so genannte Westen, auf der anderen Seite das, was man so gerne für deren Gegenstück hält: die Islamische Republik Iran, die libanesische Hisbollah, die Hamas und Baschar al-Assads angezähltes Syrien, subtil flankiert von China und Russland, den vermeintlichen advocati diaboli. Dass jene nicht nur Blockierer eines gerechten Feldzugs, sondern auch eines unkontrolliert wuchernden Imperialismus sind, ist bekanntlich ebenso wie die Charakterisierung der syrischen Rebellen als Freiheitskämpfer oder Dschihadisten vor allem eine Frage der Perspektive bzw. des Standorts der betreffenden Druckerpresse.

Die Schüsse von Sarajewo bzw. auf die Westerplatte scheinen dieses Mal den syrischen Rebellen überlassen worden zu sein. Zu brillant das Timing, zu berechenbar die Folgen, um den Angriff syrischer Granaten auf die türkische Kleinstadt Akçakale wirklich für ein Versehen (und für eine Tat der Regierungstruppen) halten zu können. Längst geht den ersten Schüssen der NATO ein subtiler Spionage- und Wirtschaftskrieg voraus: Die Zerstörung der iranischen Wirtschaft und die waffentechnische Unterstützung der syrischen Rebellen haben die Dimension eines „psychologischen“ Kriegs (Ahmadinedschad) bereits überschritten. Was den offenkundig an einer Neuordnung des Nahen Ostens Interessierten bislang fehlte, war ein nachvollziehbarer Grund, vom diplomatischen Säbelrasseln zum Einsatz scharfer Munition übergehen zu können; der Angriff „syrischer“ Truppen auf einen NATO-Mirgliedsstaat kommt da gerade Recht.

Die Folgen des drohenden Unheils sind kaum abzusehen. Zu verzweigt ist das komplexe Netz aus Interessen und Antipathien, um einen klaren Krisenverlauf vorhersehen zu können. Vergleichbar mit 1914 scheinen die vom gegenwärtigen Frieden nur mühsam überzeugten Parteien gleichermaßen darauf erpicht, endlich Tacheles bzw. die Waffen sprechen lassen zu können. Anders, so die Logik der Gewalttätigen, ist eine Zukunft im eigenen Sinne nicht zu erreichen. Dass der erste Schuss zugleich auch jede weitere Kontrolle verunmöglicht, haben diese gleichermaßen in Verbalattacken und Drohungen erfahreren Regierungen trotz zahlreicher Bürgerkriege und militärischer Auseinandersetzungen scheinbar nicht verinnerlicht. Sehr zur Freude jener in der zweiten Reihe, die diese Lektion – zumindest in den eigenen vier Wänden – gelernt haben und ihre eigenen militärischen Potentiale seither mit Vorliebe auf fremden Schlachtfeldern entfalten.

Den Beschluss des türkischen Parlaments, dem Premier weitgehende Rechte bei militärischen Aktionen im arabischen Nachbarland einzuräumen, kommentierte der stellvertretende Vorsitzende der oppisitionellen CHP, Muharrem Ince, heute wie folgt: „Damit können Sie einen Weltkrieg beginnen.“ Hoffen wir, dass der Angesprochene diese Aussage als das verstanden hat, was sie – dem Ernst der Lage nach – ist: eine Warnung, keine Aufforderung.

Bild: Bundesarchiv, Bild 183-2008-0513-500 / CC-BY-SA

Über Nicolas Flessa

Nicolas Flessa studierte Ägyptologe und Religionswissenschaft. Nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn drehte er Spiel- und Dokumentarfilme und arbeitet heute als freischaffender Autor und Journalist.
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